Wie Frau Merkel einmal Kanzlerin sein durfte

Wie Frau Merkel einmal Kanzlerin sein durfte

Um ein Haar hätte Schröders Koalition übersehen, wie leicht ihr die Verfassung das Überleben macht.
Hier das Protokoll eines legalen Staatsstreichs.

von Rainer Stephan

4.Juni 2005 Plötzlich will keiner mehr der Böse sein, es ist zum Verrücktwerden! Jahrelang bröckelten und bröselten die einst dicht um den Agenda-Kanzler geschlossenen Trutzreihen vor sich hin. Selbst Parteifreunde und Koalitionäre, die Gerhard Schröder lange Zeit als notwendiges Übel angesehen hatten, zeigten sich in vertrauter Runde bereit, über das Adjektiv "notwendig" zu diskutieren. Doch nun will kein Ströbele und kein Schreiner mehr etwas davon wissen. Je näher die Vertrauensfrage rückt, desto unerbittlicher stehen alle wieder zum Kanzler. Beziehungsweise tun so, als stünden sie was ja noch ärger ist.
Was hilft es da, dass "alle" (Sabine Christiansen) Neuwahlen wollen? Was hilft es, dass unseriöse Publizisten wie seriöse Staatsrechtler wieder bereit sind, jene ganz eindeutige Vorschrift des Grundgesetzes, die fingierte Vertrauensfragen verbietet, mit Fleiß misszuverstehen? Man müsse ja zugeben, die Zeiten seien schwierig, hört man sie bedrückt vor sich hin stammeln, als wenn das Verbot der eigenmächtigen Regierungs- und Parlamentsauflösung nicht gerade für schwierige Zeiten gedacht wäre. In leichten Zeiten tritt eh keine Regierung zurück.

Dem Kanzler selbst hülfe das alles, wie sogar ihm mählich klar wird, sowieso nicht. Klasse, werden die Leute sagen, das war ein toller Coup mit den Neuwahlen. Dann werden sie Merkel wählen und Westerwelle. Kein Mensch, wirklich keiner, mag Westerwelle, und Angela Merkel findet auch niemand toll. Aber alles, denken sie, ist besser als das, was jetzt ist. Die Leute haben keine Phantasie mehr, nicht einmal mehr für das noch Schlimmere, das ist Schröders Problem. Am liebsten wäre es ihm mittlerweile, wenn er mit seiner Vertrauensfrage scheitern, also nicht scheitern würde, und doch noch ein bisschen Kanzler bliebe. Aber das darf er jetzt natürlich nicht mehr laut sagen.

5.Juni 2005 Auch Franz Müntefering weiß nicht mehr weiter. Es war ja keine wirklich schlechte Idee, die antikapitalistischen Wurzeln der SPD wieder einmal ins Spiel zu bringen. Blöd nur, dass sich so kein Wahlkampf führen lässt, jedenfalls nicht in dieser Konstellation. Mit Schröder und Hartz IV für die Erniedrigten und Ausgebeuteten. Da lachen ja die Heuschrecken.

Zum 135.Mal blättert Müntefering ratlos im Grundgesetz herum. Dabei "heftet sich sein Blick auf jene Stelle" (Goethe), jenen Artikel, von dem einst die Vorväter raunten, der aber dann für lange Zeit in Vergessenheit geriet:

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 67, Absatz I: "Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen."

Plötzlich fällt es Franz Müntefering wie Schuppen von den Augen. Und er greift zum Handy.

1.Juli 2005 Dies ist der große Tag der Angela Merkel. Aber sie weiß es noch nicht. Gewiss, sie hat ein mulmiges Gefühl im Bauch. Aber das rührt eher daher, dass die so heftig spürbare Verkrampfung im Lager der noch amtierenden Bundesregierung seit ein paar Wochen einer großen Gelassenheit, ja einer fast überirdischen Heiterkeit gewichen ist, ohne dass jemand deren Anlass herausgefunden hätte. Rot-Grün hielt diesmal dicht.

Dann aber platzt die Bombe. Der Kanzler tritt mit sardonischem Grinsen ans Rednerpult des Bundestags und denkt nicht daran, die allseits erwartete Vertrauensfrage zu stellen.

Stattdessen: "Herr Präsident, meine Damen und Herren, nicht nur die Ereignisse der vergangenen Wochen, auch die ökonomischen Entwicklungen der letzten Jahre sind an uns allen nicht spurlos vorübergegangen. In dieser Lage ist es nicht mehr und nicht weniger als die Pflicht eines gewählten Kanzlers, zum einen sich an seinen eigenen Zielsetzungen zu messen und zum anderen an die Gemeinsamkeit aller Demokraten zu appellieren. Herr Präsident, meine Damen und Herren, als ich dieses Amt antrat, habe ich gesagt: ,Wenn es dieser Regierung nicht gelingt, die Zahl der Arbeitslosen drastisch zu reduzieren, dann haben wir es nicht verdient, weiter zu regieren.‘ Dieses Versprechen hat die Bundesregierung nicht einhalten können. Dass dies nicht ihre Schuld war, ja dass das Fiasko ohne die von ihr in Angriff genommenen Reformen noch ärger wäre, haben meine Kollegen und ich an dieser und anderer Stelle oft und ausführlich darzulegen versucht. (Zurufe von der Opposition: "Hört, hört!" – Abg. Westerwelle (FDP): "Das ist doch lächerlich, was soll denn das?") Ja, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie behaupten, Sie wüssten es besser. Sie wissen es nicht besser, aber Sie behaupten das. Herr Präsident, meine Damen und Herren, dies ist nicht mehr die Stunde für Machtspielchen, sag ich mal, und schon gar nicht für parteipolitische Eitelkeiten. Mit dem Hinweis, andere könnten es besser, muss eine demokratische Regierung nun mal leben, das muss sie abkönnen. Aber der Vorwurf des beabsichtigten Wortbruchs ist nicht nur für eine Regierung, sondern auch für die parlamentarische Demokratie unerträglich. Ich beantrage daher im Namen der Fraktionen von SPD und Grünen, Frau Angela Merkel zu meiner Nachfolgerin zu wählen und den Bundespräsidenten zu ersuchen, mich zu entlassen." (Freundlicher Beifall bei SPD und Grünen; Schweigen auf der Rechten. Abg. Westerwelle (FDP): "Könnten Sie das bitte wiederholen? Ich fürchte, ich hab‘ da was nicht richtig mitbekommen.")
Die Fraktionen von CDU und CSU bitten um eine Unterbrechung der Sitzung. Sie halten das Ganze für einen verfassungswidrigen Schwindel, werden aber von ihren Fraktionsjuristen belehrt, dass durchaus im Gegenteil dieses konstruktive Misstrauensvotum der einzig wirklich legale Weg zu einem Regierungswechsel sei. Danach wird Angela Merkel mit allen Stimmen von Rot-Grün zur Bundeskanzlerin gewählt. Die Unionsparteien und die FDP enthalten sich mehrheitlich der Stimme.

2.Juli 2005 Noch haben sich CDU, CSU und FDP nicht wirklich von ihrem Schrecken erholt; doch die Regierungsbildung ist schon im vollen Gange. Leider stellen sich ein paar unerwartete Schwierigkeiten ein.

Zum Beispiel ließ der als Superminister für Wirtschaft und Finanzen fest eingeplante Edmund Stoiber bereits 15 Minuten nach dem konstruktiven Misstrauensvotum wissen, er wünsche Frau Merkel alles Gute, fühle sich aber für seine Person fest in seine Verantwortung als bayerischer Ministerpräsident eingebunden.

Daraufhin erscheint Angela Merkel am Morgen des 2.Juli unangemeldet zum Versöhnungsfrühstück bei Friedrich Merz. Der besteht für den Fall seines Eintritts in die Regierung nicht nur auf seinem Steuerreformmodell ("Bierdeckel"), sondern auch auf einer radikalen Kürzung aller Subventionen ein Wunsch, der sich nach Rücksprache Merkels mit dem Deutschen Bauernverband, mit Vertretern der Rüstungsindustrie, mit dem Eigentümerverband Haus und Grund, mit dem Bundesverband des deutschen Groß- und Außenhandels, mit dem Bundesverband der deutschen Industrie, mit der Deutschen Bank sowie mit der CDU-eigenen Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung als nicht realisierbar herausstellt.

Als schließlich auch Merkels Duzfreund Westerwelle die Übernahme des Superministeriums ablehnt (er will aus nicht zu klärenden Gründen lieber Verteidigungsminister werden), entschließt sich die Bundeskanzlerin, den ihr von Stoiber empfohlenen Otto Wiesheu zum Wirtschaftsminister und den bis zur Stunde noch kaum hervorgetretenen Abgeordneten Leo Dautzenberg (Heinsberg) zum Finanzminister zu machen. Außenminister wird ein gleichfalls völlig unbekannter FDP-Abgeordneter namens Gerhart (Gerhardt? Gerhard?).

Auch die übrigen Kabinettsposten werden nun zügig vergeben, nach ebenso zügigen Absagen von Roland Koch, Christian Wulff und Lothar Späth. Mäkeleien am "Kabinett der Hinterbänkler" (Bild) weisen Unions-Insider zurück: Das sei schließlich eine reine Übergangsmannschaft; die Kanzlerin wolle ihr personalpolitisches Pulver nicht verschießen, bevor sie nicht das getan habe, was Schröder im letzten Moment verweigerte: Sofort Neuwahlen herbeiführen.

3.Juli 2005 Erster Auftritt der neuen Kanzlerin bei Sabine Christiansen. Frau Merkel kündigt an, demnächst im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen. Auf Christiansens launigen Einwand, das sei ja "wie bekannt" verfassungsrechtlich nicht unbedenklich, erklärt Merkel, was Kohl recht und Schröder fast recht gewesen sei, könne ihr nur billig sein. Außerdem hätten die Wähler ein Recht, an dem sich anbahnenden großen Wechsel beteiligt zu werden. Der gleichfalls anwesende SPD-Bundesgeschäftsführer Karl-Josef Wasserhövel (die höheren Chargen sind im Urlaub) sagt, am besten könnten die Wähler mitreden, wenn Frau Merkel jetzt ihre politischen Rezepte einmal in der Praxis vorführen würde, statt gleich wieder zurückzutreten.

5.Juli 2005 Im Bundestag stellt Angela Merkel zum ersten Mal die Vertrauensfrage. Die Abgeordneten von Union und FDP erscheinen nur spärlich zur Sitzung, weswegen es Rot-Grün ein Leichtes ist, der neuen Kanzlerin mit großer Mehrheit das Vertrauen auszusprechen.

6. Juli 2005 Der Bundestag beschließt in erster, zweiter und dritter Lesung die Einführung einer Kopfprämie zur Gesundheitsversorgung von monatlich 438 Euro. (Die auf den ersten Blick etwas erschreckende Höhe der Summe wird dadurch gemildert, dass sie bei einem Jahreseinkommen von 120000 Euro aufwärts von der Steuer abgesetzt werden kann.) In erster Lesung werden zudem die Absenkung der Körperschaftssteuer auf 2,5 Prozent, der Wegfall von Erbschafts- und Grunderwerbssteuer (Dautzenberg: "sind eh nur Peanuts") sowie zur vorgesehenen Entlastung der Sozialkassen eine zunächst zwanzigprozentige Pauschalkürzung der Renten und Arbeitslosenbeihilfen auf den Weg gebracht und alle Sozialämter geschlossen. Daraufhin verabschiedet sich das Parlament in die Sommerpause.

18. August 2005 Nach einem krassen, nur von ganz wenigen Experten (z.B. Dautzenberg) der "üblichen Sommerflaute" zugeschobenen Anstieg der Arbeitslosenzahlen auf 9,6 Millionen wird der Bundestag zu einer Sondersitzung aus den Parlamentsferien gerufen. Einziger Tagesordnungspunkt: Vertrauensfrage der Bundeskanzlerin. Um endlich Neuwahlen herbeizuführen, stimmen die diesmal vollzählig erschienenen Fraktionen von CDU, CSU und FDP geschlossen gegen Angela Merkel; die ebenfalls vollzähligen Fraktionen von SPD und Grünen votieren jedoch nicht minder geschlossen für einen Verbleib der Kanzlerin in ihrem Amt.

30. November 2005 Nachdem im September auf Drängen der FDP die Übernahme deutscher Firmen durch ausländische Investoren erleichtert und die Verpflichtung zum Erstellen von Sozialplänen als bürokratisches Hemmnis beseitigt wurde, ist die Arbeitslosenquote zum ersten Mal über die Zehn-Millionen-Grenze gestiegen, was Finanzminister Dautzenberg als Folge der "üblichen Winterflaute" bezeichnet. Andererseits gibt es endlich auch gute Nachrichten: Der Bundesverband der deutschen Arbeitgeber bezeichnet das Vertrauen in die Konjunktur als "insgesamt gestärkt". Und seitdem Wirtschaftsminister Wiesheu bei Sabine Christiansen das Thema Kinderarbeit als "unzeitgemäßes Tabu" apostrophierte, erwägen mehrere südostasiatische Textil- und Spielwarenhersteller eine Verlagerung ihrer Betriebe in die Bundesrepublik.

21. Dezember 2005 Stoiber hat Wiesheus Parteiausschluss beantragt: "Kinderarbeit so etwas ist mit der Christlich-Sozialen Union nicht zu machen, schon gar nicht vor Weihnachten." Stoibers Anregung, Bundeswirtschaftsminister Wiesheu durch Horst Seehofer zu ersetzen, stößt bei der inzwischen ohnehin verbitterten Angela Merkel auf taube Ohren.

10. Januar 2006 Anlässlich des Treffens der CSU-Bundestagsfraktion in Bad Kreuth kommt es zum Bruch der Koalition und zum Austritt der CSU aus der Bundesregierung. Merkel stellt daraufhin wieder einmal die Vertrauensfrage. Und wieder stimmt Rot-Grün geschlossen für ihren Verbleib im Amt.

14.April 2006 Es geht aufwärts! Deutsche Bank (plus 49 Prozent), Siemens (plus 47 Prozent), Telekom (plus 0,2 Prozent) melden Rekordgewinne. Merkel hofft, dass nun "geht’s der Wirtschaft gut, geht’s auch den Menschen gut!" die Arbeitslosenquote (derzeit 12,4 Prozent) ebenfalls bald sinken wird.

13. September 2006 Arbeitslosenquote: 12,8 Prozent. Ordnungsgemäße Neuwahlen zum Deutschen Bundestag. Ergebnis: CDU/CSU 37,6, SPD 39,9, Grüne 11,1, WASG/PDS 4,9, FDP 2,3 Prozent.

Neuer Bundeskanzler wird Gerhard Schröder.

(Quelle: Süddeutsche Zeitung)